Mittwoch, 20. Mai 2015

Die Ukraine-Politik des Westens steht vor einem Scherbenhaufen

Nur widerwillig und mit erheblicher Verzögerung rückten deutsche Mainstream-Medien die Information heraus, dass das ukrainische Parlament für ein Gesetz stimmte, dass es der Regierung erlaubt, die Schuldenrückzahlungen an ausländische Gläubiger zurückzuhalten. Mit dieser Drohung sollen die Gläubiger zu Umstrukturierungen und Stundungen der Schulden erpresst werden.

Betroffen sind vor allem große amerikanische Investoren, die im Besitz ukrainischer Staatsanleihen sind. Sie sind, genau wie die US-Regierung, von den verzweifelten Mätzchen aus Kiew alles andere als begeistert und wollen ihr Geld wiederhaben. Nicht, dass man in Washington nicht vermuten konnte, dass die Ukraine, nachdem ihre engen Wirtschaftsbeziehungen mit Russland torpediert wurden, zu einem finanziellen Pflegefall wird. Jedoch hat die Aussicht, große Schiefergasvorkommen in der Ostukraine unter traumhaften Konditionen ausbeuten zu können und damit Russlands Gas am europäischen Markt zu verdrängen, das Ganze aufgewogen. Nun, als diese Pläne durch den Aufstand im Donbass grandios gescheitert sind, bleibt dem Westen nur die Kehrseite der Medaille: das korrupte Land immer weiter mit Milliardenspritzen am Leben erhalten ohne Aussicht, die Kosten je wieder reinzuholen.

Aus diesem Grund hat sich die Tonlage der USA gegenüber Kiew und Moskau jüngst deutlich verändert. Während Kerry, Nuland und andere hohe Tiere zu den "isolierten" Russen fahren und durch demonstrative Höflichkeitsgesten Verhandlungen aufnehmen wollen (nicht zuletzt wegen dem anderen Scherbenhaufen rund um den vorrückenden IS), gibt es für Kiew erstmals öffentliche Kritik und Zurechtweisungen. Kerry ließ wissen, Poroschenko solle nicht daran denken, das Minsker Abkommen zu verletzen und Donezk militärisch angreifen, wie dieser zuletzt androhte. Auch am Stuhl von Arseni "Yats" Jazenjuk wird kräftig gesägt. Anfang 2014 war es Victoria Nuland, die im berühmten abgehörten "Fuck the EU"-Telefonat den "Yats" fürs Amt des Premiers empfahl. Heute ist es wieder Nuland, die für ihren Zögling, der völlige Inkompetenz bewiesen hat, Ersatz sucht. Ganz offen traf sie sich im Kiew mit dem Jazenjuk-Rivalen Ljowotschkin, der zuvor zu der Oligarchenclique rund um Janukowitsch gehörte. Das ist heute egal, denn alle politische Figuren in der Ukraine sind Chamäleons. Die USA suchen verzweifelt nach mehr Kompetenz, um zumindest das eigene Geld zurückzubekommen. Dass die Ukraine neues Geld vom IWF bekommt, ist angesichts der aktuellen Lage immer unwahrscheinlicher. Deswegen war heute schon mal die Meldung zu lesen, dass die Ukraine direkt vor dem Staatsbankrott steht.

Dem Präsidenten Poroschenko steht das Wasser bis zum Hals. Die Wirtschaftsleistung ist im 1. Quartal 2015 um 17,8 % eingebrochen, die Bevölkerung wird immer ärmer und wütender. Dieser Entwicklung versucht er mit immer schärferer Kriegsrhetorik entgegenzuwirken. Es wird immer wahrscheinlicher, dass er demnächst die nächste Kriegsrunde in der Ostukraine eröffnet, um die in- und ausländische Aufmerksamkeit darauf zu lenken und die Schuld an der Misere auf den Krieg bzw. auf den Gegner abzuwälzen. Poroschenko hat keine andere Wahl, als entweder auf den militärischen Sieg zu hoffen oder sich als Opfer der Russen darzustellen. Es wird wieder zu einer risikoreichen politischen Zerreißprobe, die der Westen so nicht mehr will, wenn man sich Kerrys Warnungen an Poroschenko in Erinnerung ruft. Der Westen hat wohl eingesehen, dass es in der Ukraine nichts mehr zu holen gibt und sucht nach Wegen, um ohne Gesichtsverlust aus dem Schlamassel rauszukommen. Russland und die Separatisten brauchen indes nur abzuwarten, bis die Ukraine von sich aus kollabiert und weite Gebiete von Charkow bis Odessa kampflos zum prorussischen Lager überwechseln. Ein Interesse am Krieg haben sie aktuell nicht. Nur die Abenteurer aus Kiew können heute den Krieg wieder aufleben lassen.

Freitag, 8. Mai 2015

Die jährlichen Propagandamühen zur Diskreditierung der russischen Siegesfeier

In Anbetracht des kommenden 70. Jahrestags des Sieges über Hitler-Deutschland und des damit verbundenen Feiertags in Russland nimmt in der deutschen Presse erwartungsgemäß die Zahl der Artikel zu, in denen sich verschiedene russophobe Gestalten darüber auskotzen können. Mal wird über Putins "Missbrauch" des Feiertags für die heutige Politik geschrien, mal wird sogar versucht, an der historischen Bedeutung dieses Feiertags zu sägen.

 Die Argumente sind platt und oberflächlich, doch ihre ständige Wiederholung nach dem Prinzip "steter Tropfen höhlt den Stein" sind Teil einer langfristigen Strategie zur Änderung des historischen Bewusstseins der Menschen. Kein einziges Material in den Mainstream-Medien, das der Autor dieses Blogs zuletzt zu Gesicht bekam, erklärte zu diesem Anlass die Tragweite und die historische Bedeutung des sowjetischen Sieges, stattdessen war überall eine Fixierung auf Aspekte, die den Sieg der Sowjetunion vermeintlich herabsetzen. Der redaktionelle Wille, Russland auch bei diesem Thema eins auszuwischen, ist unübersehbar. Genau darin liegt der eigentliche Missbrauch der Geschichte für die laufende Politik.

Was sind die Hauptthesen der Manipulierer und warum sie falsch?

Maistream-These: Putin überhöht absichtlich die Bedeutung des Sieges über Nazi-Deutschland.

Wahrheit: Die Bedeutung des Sieges über Nazi-Deutschland kann gar nicht überhöht werden. Im Gegensatz zu Frankreich, Großbritannien und anderen Ländern, führte Hitler gegen die Sowjetunion einen gnadenlosen Vernichtungskrieg. Das Ausmaß an Brutalität und Zynismus in den besetzten Teilen der Sowjetunion ist heute in Deutschland immer noch weitgehend unaufgearbeitet. Ca. 16 bis 18 Millionen Zivilisten sind in der Sowjetunion unter dem Nazi-Besatzungsregime oder infolge der völlig ungezügelten Kriegsführung der Nazis (Luftkrieg, Artillerie etc.) umgekommen. Die Nazis hatten nach dem "Endsieg" wahnwitzige Pläne für die Schaffung von Lebensraum, Dezimierung, Versklavung und Umsiedlung von Hunderten Millionen von Osteuropäern. Auch wenn diese Pläne (Generalplan Ost) nie realisiert wurden, steht die großflächige Vernichtung von Menschenleben, materiellem und kulturellem Gut mit dieser anvisierten Realität in Verbindung. Der Hungerplan (auch Backe-Plan), die Aushungerung von Leningrad, die Verschleppung von Hunderttausenden von Zwangsarbeitern, Massenerschießungen der Zivilisten im Rahmen des Anti-Partisanen-Kampfes, all das war auf die menschenverachtende Ideologie zurückzuführen und auf das Ziel, jegliche russische Staatlichkeit und Kultur perspektivisch auszulöschen. Aus diesem Grund feiert Russland diesen Tag als seine zweite Geburt und als Überwindung der größten Existenzgefahr in der Geschichte. Kaum eine Familie in der ehemaligen Sowjetunion hatte keine Verluste in diesem Krieg zu beklagen. Mit USA, Großbritannien oder Frankreich ist das überhaupt nicht vergleichbar.

Mainstream-These: Eine Militärparade ist nicht der richtige Weg, das Kriegsende zu gedenken. Man sollte still und leise der Opfer gedenken.

Wahrheit: In Russland gilt der 22. Juni, der Tag des Überfalls der Wehrmacht, als der Tag der Trauer. Einzelne Jahrestage, wie beispielsweise der Blockade Leningrads, werden ebenfalls mit dem stillen Gedenken begangen. Der 9. Mai ist dagegen mit der deutschen Kapitulation und dem militärischen Sieg verbunden, auf den damals Millionen Menschen hingearbeitet haben. An diesem Tag dürfen die Menschen Freude und Stolz auf ihr Land zum Ausdruck bringen, was nach dem Geschmack der gehässigen Westpresse vermutlich zu keinem Zeitpunkt der Fall sein sollte.

Mainstream-These: Der militärische Verdienst der Sowjetunion ist gar nicht so groß. Die großen Verluste zeugen von Inkompetenz, außerdem hat die Sowjetunion nur dank der Hilfslieferungen der Alliierten gewonnen.

Wahrheit: Wie bereits geschrieben, bestand der Großteil der sowjetischen Verluste aus Zivilisten, die unter dem deutschen Besatzungsregime umgebracht wurden. Wenn die Nazis etwa den Franzosen gegenüber die gleichen Vernichtungspläne gehegt hätten, hätte auch das besetzte Frankreich gigantische Verluste ähnlichen Ausmaßes. Über drei Millionen Tote gingen zudem auf sowjetische Kriegsgefangene in Deutschland zurück, die unter unmenschlichsten Bedinungen umkamen, teilweise auch als Opfer brutalster medizinischer Versuche. Auch hier ist ein deutlicher Unterschied zur Behandlung anderer Kriegsgefangener zu sehen. Die Sowjetunion verlor im Kampf ca. 8,6 Millionen Soldaten, was nur ca. um Faktor 1,3 größer ist, als die Verluste der gegen sie kämpfenden Achsenmächte. Was nicht vergessen werden sollte, ist dass Nazi-Deutschland beinahe ganz Europa unterjocht hat und zahlreiche faschistische Marionettenregime sowohl Soldaten als auch Industrieproduktion für den Kampf an der Ostfront zur Verfügung stellten. Trotz des Überfalls und der schlechteren Vorbereitung auf den Krieg mit dem bereits erfahrenen Gegner, der zuvor große Länder binnen Wochen überrante, hielten sich die sowjetischen militärischen Verluste so gesehen noch im Rahmen.

Was die alliierte Hilfe anbetrifft, ist das ein Irrtum, zu glauben, dass sie kriegsentscheidend war. Die anglo-amerikanische Entscheidung, der Sowjetunion überhaupt etwas zu liefern, erfolgte erst im Dezember 1941, da war die vorentscheidende Schlacht um Moskau schon vorbei. Im Laufe des Kriegsjahres 1942 begannen die Lieferungen nur ganz spärlich zu fließen, auch weil die deutschen U-Boote und Flugzeuge zahlreiche alliierte Schiffe auf der Nordroute versenkten. Auf den Ausgang der Schlacht bei Stalingrad hatten die alliierten Lieferungen nur einen ganz kleinen Einfluss. Im großen Umfang begannen sie erst Mitte 1943, etwa zur Zeit der Schlacht am Kursker Bogen, als die Sowjetarmee immer noch nicht sonderlich gesättigt war mit "Studebekkers". Es ist richtig, dass der darauffolgende Vormarch der Roten Armee ohne die alliierte Hilfe bei der Motorisierung weniger rasch und mit höheren Verlusten verbunden gewesen wäre. Die Kriegsentscheidung ist aber schon vorher, weitgehend ohne die alliierte Hilfe gefallen. Die Sowjetunion hat der Wehrmacht ca. 85% ihrer Verluste zugefügt, während die Westalliierten lange zögerten, eine vollwertige zweite Front in der Normandie zu eröffnen. Sie tauschten Technik gegen Menschenleben und nicht einmal die Technik lieferten sie unentgeltlich. Die Sowjetunion bezahlte dafür mit Gold, Öl und anderen Ressourcen.

Mainstream-These: Durch den Hitler-Stalin-Pakt trägt die Sowjetunion eine Mitschuld am Zweiten Weltkrieg. Anschließend brachte sie Ost- und Mitteleuropa eine neue Unterdrückung. Stalin ist gleich Hitler.

Wahrheit: Es ist völlig ahistorisch, den Hitler-Stalin-Pakt losgelöst von allen anderen Entwicklungen zu sehen, die in der Vorkriegszeit vonstatten gingen. Großbritannien und Frankreich haben eine Appeasement-Politik betrieben, die so weit ging, dass sie 1938 in München ihren Verbündeten, die Tscheschoslowakei, Hitler zum Fraß überließen. Zuvor haben sie alle nachweislichen Initiativen Stalins abgeblockt, eine gemeinsame Koalition gegen Hitler zu bilden. Ihr Ziel war es, Hitlers Aggression nach Osten zu lenken. Die auf sich gestellte Sowjetunion tat nun dasselbe und versuchte die Aggression von sich wegzulenken. Mit einem Nichtangriffspakt sorgte sie für ihre Sicherheit, wie es damals schien. Einen ähnlichen Nichtangriffspakt mit Deutschland hat 1934 auch Polen abgeschlossen, das sich übrigens 1938 an der Teilung der Tschechoslowakei beteiligte. Heute beklagen sich die Polen, dass ihnen dasselbe wiederfahren ist. So war jedoch die Vorkriegsrealität, in der Polen selbst aktiv mitmitschte.

Es ist richtig, dass das nach dem Kriegsende installierte sozialistische System keine politischen Freiheiten brachte und mit Repressionen und Zensur gegen Andersdenkende verbunden war. Das Lebensniveau war ebenfalls suboptimal. Allerdings ist das überhaupt nicht zu vergleichen mit dem Schicksal, das die Völker Osteuropas im Falle von Hitlers Sieg erwartet hätte. Der Sieg der Sowjetunion bedeutete die schier physische Rettung der Menschen, ihrer Kultur, Sprache und Staatlichkeit. Wenn die Polen, die unter Hitler 6 Millionen Menschen verloren und in der Nachkriegsepoche einen Zuwachs von 15 Millionen Menschen erlebten, heute meinen, es gebe keinen Unterschied zwischen den beiden Systemen, dann ist das schlicht realitätsverlustig. Die Rettung und die Erhaltung dieser Nationen kann durch nichts aufgewogen werden. Es ist höchst undankbar und unmoralisch, diese Leistung der Sowjetsoldaten herabzusetzen und das Andenken daran zu verwischen, wie das heute mit tatkräftiger Vorarbeit westlicher Think Tanks und NGOs etwa in Polen, im Baltikum und seit Neuestem auch in der Ukraine praktiziert wird.

Samstag, 2. Mai 2015

Das Massaker von Odessa. Ein Jahr danach

Übersetzt aus dem Blog Colonel Cassad, einem der besucherstärksten und informiertesten Berichterstatter über den Bürgerkrieg in der Ukraine.

Abdrücke am verrußten Fenster nach dem Brand in Odessa
An jenem Tag ging gerade der zweite Sturm von Slawjansk vonstatten, die Streitkräfte der Junta begannen, auf die Stadt vorzurücken. Vom Berg Karatschun stiegen Leuchtkörper auf, es hallten Schusswechsel, hinter der Stadt fielen Hubschrauber, abgeschossen von den Donbass-Volksmilizen. Die Kämpfe dauerten den ganzen Tag, ihre Ausmaße wurden größer. So etwas gab es seit Beginn des Krieges noch nicht. Doch gegen Abend begann sich plötzlich Odessa in die Schlagzeilen einzuklinken. Von dort kamen schreckliche, surreale Bilder der lebendig verbrannten und bestialisch ermordeten Menschen, womit eine neue Seite im ukrainischen Bürgerkrieg eröffnet wurde.

Obwohl es bis zum 2. Mai 2014 bereits zahlreiche Opfer dieses Krieges gab, tanzten diese Morde nicht nur durch die Anzahl der Opfer aus der Reihe, sondern durch das neue Niveau an Brutalität, das vielen damals noch unmöglich schien.  Heute, wenn wir im Laufe des Jahres bereits zu viele Frauen und Kinder gesehen haben, die von den Faschisten umgebracht wurden, zu viele zerstörte Städte und schreckliche Spuren der Kämpfe, hat sich die Wahrnehmung der Tragödie von Odessa etwas abgestumpft. Wir haben uns an etwas gewöhnt, woran man sich nicht gewöhnen darf. Doch damals, am 2. Mai 2014, hat Odessa eine massenhafte Erschütterung des öffentlichen Bewusstseins ausgelöst, die den Krieg in der Ukraine in davor und danach geteilt hat. Für viele wurde Odessa zum Point of No Return, nach dem es unmöglich wurde, über eine einige Ukraine, über eine Föderalisierung oder eine Aussöhnung zu sprechen. Gerade nach dem Massaker von Odessa hat der Begriff Faschismus in Bezug auf die Kiewer Junta eine innere Bedeutung erhalten, da die Menschen endlich das Gesicht des nur aus den Büchern bekannten Faschismus gesehen haben, der sich an die Macht putschte und zum offenen Terror überging.

Die Ereignisse von Odessa wurden zielgerichtet vorbereitet und waren mitnichten etwas zufälliges. Vor dem Hintergrund des eskalierenden Krieges im Donbass, war es für die Junta äußerst wichtig, die Proteste in Odessa zu unterdrücken, wo die Demos weitergingen und ein fortgehender lokaler Gegenentwurf zum "Maidan" vor dem Haus der Gewerkschaften bestand. Zu diesem Zeitpunkt wurde der offene Widerstand bereits in Charkow und Saporoschje zerschlagen, mit Hilfe der herbeigekarrten Banden der "Selbstverteidigung des Maidans", ausländischer Söldner und Teile der Polizei, die die Seite der Junta ergriffen haben. Odessa war der nächste Punkt auf der Liste. Danach sollte Mariupol folgen.

Die Hauptaufgabe der Junta war es, den offenen Widerstand maximal brutal zu unterdrücken und die eigene Macht in der Stadt zu festigen, die bis dato wegen schwankender lokaler Beamtenschaft und Polizei noch nicht vollwertig war. Da die Junta über nicht ausreichend eigene Kräfte verfügte, wurden zur Verstärkung der loyalen Teile der Polizei Fußball-Ultras und die Kämpfer der "Selbstverteigung" eingeführt. Unter den bekannten Organisatoren der blutigen Ereignisee waren Kolomoiski und Parubij. Der Leiter der Odessaer Polizei und der Gouverneur von Odessa wussten, was kommen sollte, und haben das Feld vorsorglich gesäubert.  Die Polizei und wichtige munizipale Dienste wurden temporär neutralisiert, damit die eingeführten Schläger ihre Sache störungsfrei verrichten konnten. Später versuchte man, die Verantwortung für das Massaker auf Menschen wie Futschedschi abzuwälzen, den Leiter der Odessaer Polizei. Doch sie waren nur Mittäter und keine Organisatoren des Gemetzels, derer man sich entledigte, sobald sie nicht mehr gebracht wurden.

Wie die weiteren Ereignisse zeigten, waren die Kräfte von Anfang an ungleich. Der lokale Antimaidan war zwar stärker als die lokalen Anhänger des Rechten Sektors und die Nationalisten. Doch durch die eingeführten Verstärkungen aus der Zentralukraine bekam der Gegner einen Vorteil, den er genutzt hat. Im Zuge der bewaffneten Zusammenstöße, die bei völliger Untätigkeit der Polizei stattfanden, hat sich die zahlenmäßige und organisatorische Überlegenheit des Gegners schnell ausgewirkt. Gegen Abend hat sich die Lage in eine sehr ungünstige Richtung für den Antimaidan entwickelt. Unter dem Druck des überlegenen Gegners begann sich ein Teil der Aktivisten zum ständigen Lager in der Nähe des Gewerkschaftshauses zurückzuziehen, wo das Massaker später auch stattfand. Ein Teil der Menschen hat begriffen, dass etwas sehr Ungutes vor sich geht und hat das Lager sofort verlassen, das zur Beute der angreifenden Ultra-Nationalisten wurde. Doch nicht alle gingen, ein Teil der Leute blieben, um das Lager zu verteidigen, oder zumindest Schutz im Gewerkschaftshaus zu finden. Sie dachten, dass sie es immer noch mit Schlägereien zwischen Maidan und Antimaidan zu tun haben und nicht mit einem Bürgerkrieg, wo man Gegner tötet.

Die Kräfte waren in diesem Moment eindeutig ungleich, weshalb das Lager vor dem Gewerkschaftshaus binnen weniger Minuten verbrannt wurde. Das zeigt die systematische Vorbereitung zu genau solchem Szenario. Danach begann das eigentliche Massaker. Menschen, die versuchten, sich im Gebäude zu retten, wurden bereits in oberen Stockwerken erwartet, wodurch das Gebäude zur Falle wurde. In das bereits angezündete Haus stürmten Faschisten und töteten due Flüchtenden. Diejenigen, die aus den Fenstern sprangen, wurden bereits auf der Straße zu Tode geprügelt, ohne die Kameras zu scheuen, die das Ganze festhielten. Schreie der Menschen, die gerade getötet wurden, hallten aus den Fenstern durch den Vorplatz. Das passierte in einem Land, dass sich damit brüstete, "europäisch" zu sein.

All das geschah bei völliger Tatenlosigkeit der Polizei und der Feuerwehr, die die Szenerie just zu dem Zeitpunkt betraten, als die Terroraktion bereits vorbei war. In etwa ab hier gelangten erste schreckliche Bilder und Videos ins Netz von dem, was im Gewerkschaftshaus ereignete. Stark verkohlte Menschenkörper, die einen grausamen Tod erlitten, Blutspuren an den Wänden und jene verwischte Händespuren auf Glas, die zu einem der Wahrzeichen des Massakers von Odessa wurden. Diejenigen, die das sahen, konnten nicht glauben, dass das passiert. Viele hatten geglaubt, dass die Behauptungen über die Existenz des Faschismus in der Ukraine ein Mythos waren, ein propagandistisches Phantom. Doch die Eregnisse von Odessa öffneten ihnen die Augen. Vor dem Hintergrund des Massakers von Odessa wurde selbst der abgewehrte Sturm auf Slawjansk zweitrangig. Lebendig verbrannte Menschen, eine erwürgte Frau, die triumphierenden, vor lauter Blut tiergewordenen Ultranationalisten, die sich mit Leichen fotografieren und freudig in die Kameras ukrainischer TV-Sender über die "erfüllte Mission" berichten, wo ihnen eine jubelnde Biomasse im Studio Applaus spendet.

Selbstverständlich konnte über eine staatliche Aufklärung des Massenmordes keine Rede sein, denn die Ermittlungen leiteten faktisch diejenigen, die das Massaker organisierten. Europa hat diese Morde im Rahmen der traditionellen doppelten Standards ebenfalls erfolgreich ignoriert. In der Ukraine wurde erklärt, die Menschen hätten sich selbst angezündet. Später werden nach derselben Logik die Ereignisse im Donbass präsentiert: die "Terroristen" beschießen ihre eigenen Städte. Der unverhüllte Zynismus wurde zur Norm, die gegrillten "Kartoffelkäfer" (so nennen ukrainische Nationalisten die Protestbewegung wegen ihrem schwarz-gelben Georgsband. -Anm. des Unbequemen) wurden zum Objekt der Witze der "neuen Europäer", die freudig um das Feuer tanzten, in dem ihr eigenes Land verbrannte. Was sich als Proteste gegen die Weigerung, ein unbedeutendes Papier zu unterzeichnen, begann, entwickelte sich zu Massenmorden an den eigenen Mitbürgern, das Land versank im kollektiven Wahnsinn der verzerrten Welt des Faschismus.

Für mich war das Massaker keine Überraschung, denn die Genesis der Ereignisse wurde für mich noch vor dem Umsturz in Kiew deutlich. Doch mit dem, was passiert ist, konnte man sich unmöglich abfinden. Das Massaker von Odessa wurde zu einem weiteren sehr gewichtigen Argument, dass das Regime in Kiew unbedingt ausgetauscht gehört, denn im Folgenden wird es noch schlimmer. Die Vorahnung täuschte nicht, es kam tatsächlich viel schlimmer. Ich schrieb schon damals, dass am 2. Mai in erster Linie nicht Bewohner von Odessa verbrannt wurden, sondern vor allem die Ukraine, begleitet vom freudigen Jubel der Unmenschen. So kam es auch. Trotz eines ganzen Jahres der verschiedenen Verhandlungen und Waffenruhen, denken nach Odessa drei der von der Ukraine bereits abgefallenen Regionen nicht daran, zurückzukehren. Die verbrannten Menschen kamen wie ein Bumerang in Form Tausender von Särgen vom Donbass zurück, wo unter den Verteidigern der "einigen Ukraine" wir genauso schecklich verbrannte Leichen sahen, die wie eine Sühne für Odessa aussahen. Doch die Hauptschuldigen sind immer noch an der Macht und ihre Sühne ist noch nicht gekommen.

Odessa wurde schrecklich eingeschüchtert und lebt heute de facto unter einer inneren Besatzung. Die ständigen Verhaftungen sowie die Aktionen der aus dem Untergrund agierenden Widerstandskämpfer dauern schon das ganze Jahr an. Diejenigen, die dachten, man könnte die Sache aussitzen und dass die Ereignisse sie nicht betreffen, werden von der brutalen Realität eingeholt: die Lebensqualität begann rapide zu fallen, vom Donbass kommen Zinksärge, es kommen Einberufungsbescheide in die Armee, wo den feigen Aussitzern von vor einem Jahr die Rolle des Kanonenfutters zukommt. Ihre Freunde und Bekannte können auf schlichten Verdacht auf Illoyalität verhaftet werden. Diejenigen, die versuchten, außerhalb der Politik zu sein, ernten jetzt die Früchte ihres Apolitischseins. Diejenigen, die den Bürgerkrieg ignorierten, haben nun vollends seine Folgen zu spüren bekommen, obwohl sie damals imstande gewesen wären, diese Folgen durch eine aktive bürgerliche Position zu minimieren. Die Atomisierung der Gesellschaft und das konsumgeprägte Bewusstsein schufen eine ausreichende Basis, damit der Faschismus triumphieren und zu offenem Terror übergehen konnte. Die Menschen haben einfach nicht verstanden, dass der Preis der Massenproteste im Frühjahr 2014 deutlich geringer gewesen wäre, als der Preis, den die Ukraine für die Zeit zahlen wird, die der Junta an der Macht ist. Dieser Preis wird bereits mit Zehntausenden von Menschenleben gezählt. Und der Preis wird auch weiterhin sehr hoch sein. Das Bewusstsein dafür wird früher oder später komen, doch die Opfer der ukrainischen Tragödie wird das nicht mehr zurückbringen, ebenso wie die Leben derer, die beim Massaker von Odessa umkamen.