
Chodorkovsky ist zweifellos ein Dieb, denn niemand kann binnen weniger Jahre ein Vermögen von knapp 18 Milliarden Dollar mit ehrlichen Geschäften anhäufen. Deswegen sind die Krokodilstränen, die die westliche Medienwelt nach ihm weint, kaum mehr als Heuchelei und Realitätsausblendung. Chodorkovsky hat sich im Westen zu einer nützlichen Keule gegen Putins Russland entwickelt. Ein axiomatisches Schlagwort, von denen es mittlerweile viele gibt "Pressefreiheit", "Demokratiemangel", "Gouverneursernennungen", "Litvinenko", "Gaserpressung" u.v.m. Wer ein Stück Ehrlichkeit besitzt und sich der Tatsache stellt, dass es sich bei Michail Chodorkovsky nicht um einen ehrlichen Geschäftsmann handeln kann, der darf sich nicht ernsthaft darüber aufregen, dass dieser Mann heute in Sibirien Handschuhe für Armeeangehörige näht. Die Frage, die wohl etwas mehr moralische Aufrichtigkeit hätte, wäre höchstens, warum nicht noch viel mehr von Russlands Oligarchen hinter schwedischen Gardinen sitzen. Denn verdient hat es sicherlich nicht nur Chodorkovsky.Ich erkläre mir diesen Umstand damit, dass man aus realpolitischen Gründen nicht alle Oligarchen einbuchten kann. Schließlich handelt es sich bei ihnen heute unabhängig von ihrer Vergangenheit um bedeutende Wirtschaftsakteure, an denen Milliarden Steuereinnahmen und Millionen Arbeitsplätze hängen. Eine Totalverstaatlichung des Oligarchenbesitzes wäre fatal, denn niemand muss den Russen heute noch erklären, dass der Staat ineffektiver wirtschaftet, als ein Privatkonzern. Und die Turbulenzen im Zusammenhang mit einer Reprivatisierung kann und will sich in Russland niemand mehr antun.
Im Grunde verstehe ich Putins Situation in seiner Anfangszeit als Präsident so: auf der einen Seite sind da die gierigen Oligarchen, die nicht nur nach Geld, sondern auch nach politischer Macht lechzen. Ihr Einfluß gehört dringend beschränkt, will Russland nicht weiterhin im korrupten und ruinösen Sumpf der 90er Jahre verfaulen. Auf der anderen Seite darf das recht flotte und optimistisch stimmende Wirtschaftswachstum nicht abgewürgt werden. Denn das Dringendste, was der todkranke Patient Russland in diesem Situation brauchte, war nicht die verdiente Abstrafung der Oligarchen, sondern Stabilisierung. Ohne Stabilisierung und wirtschaftlicher Erholung wären solche Aktionen im zerfallenden Land Russland brotlose Kunst. Und so entschied sich Putin für einen Mittelweg, einen Kompromiss zwischen zwei gegenläufigen Tendenzen. Er schnappte sich den reichsten und den frechsten von den Oligarchen, der außerdem noch drauf und dran war, die ergatterten strategischen Ressourcen Russlands an die Amerikaner zu verscherbeln, und statuierte an ihm ein Exempel. Und die Botschaft ist in der Tat angekommen. Die meisten haben diese Lektion gelernt und eingesehen, dass die Spielchen der 90er im heutigen Russland nicht mehr möglich sind. Wollen sie keinen Ärger, haben sie ab nun brave Bürger und Mäzene zu sein.
Nur mit solch einem großen und prominenten Mann wie Chodorkovsky war dieser Effekt zu erreichen gewesen. Sicherlich war dies kein lupenreines und rechtsstaatliches Vorgehen, doch realpolitisch war dies das einzig Richtige. Und auch die ausländischen Investitionen in Russland, denen erboste westliche Zeitungen dramatische Einbrüche prophezeiten, haben sich gänzlich unbeeindruckt gezeigt.