Sonntag, 22. April 2007

Russische Ressourcen als Grund zum Schämen?

Vielfach sind in der westlichen Presse stereotypenhafte Aussagen zu lesen, die mehr oder weniger darin bestehen, dass das derzeitige solide russische Wirtschaftswachstum und damit das neue russische Selbstvertrauen auf nichts weiter, als auf hohen Rohstoffpreisen beruht. Wenn man sich vor Augen führt, dass die Öl- und Gaswirtschaft nur ca. ein Viertel der russischen Wirtschaft ausmacht (was gewiss zu viel ist), dann muss diese Erklärung den Menschen, die genauer hinschauen, als viel zu dünn vorkommen. Zumal in Russland auch solche Branchen wie IT, Bau, Metallverarbeitung, Einzelhandel, Telekommunikation, Rüstung u.v.m. boomen.

Doch der Effekt ist bei der überwiegend willig schluckenden Mehrheit erreicht: Öl und Gas sind einleuchtend, einprägsam und leicht zu verstehen. Und das wichtigste: sie befreien von der Notwendigkeit, die Russen (und vor allem Putin) für ihr Wirtschaftswachstum zu würdigen. Hohe Preise sind niemands Verdienst, genauso wenig wie das naturgegebene Vorhandensein von Rohstoffvorkommen. Während im Westen der Wohlstand auf hochtechnologischen Leistungen und wahrer Arbeit basiert, haben die Russen lediglich Glück. Jemand, der nur Glück hat, verdient keine Anerkennung, und das russische Selbstbewußtsein aufgrund von hohen Rohstoffpreisen ist sowieso billig, primitiv und durchschaubar.

Dieses Konzept fügt sich sehr schön in die lange westliche Tradition, die russischen Leistungen mit banalen Vereinfachungen zu schmälern. Das Scheitern diverser westlicher Angriffskriege gegen Russland führt man zum Beispiel zum großen Teil auf den Frost zurück oder, wie man in Bezug auf Napoleons Feldzug vor kurzem in der New York Times lesen konnte, auf einen massenhaften Läusebefall, der die Immunität der Soldaten der Grande Armee geschwächt haben soll. Russischen Anstrengungen und Entscheidungen räumt ein solches Weltbild nur wenig Platz ein. Denn für die westliche Psychologie hatte der Gedanke russischer Ebenbürtigkeit schon immer einen sorgenvollen und unbequemen Hauch, da mit dem eigenen, liebevoll gepflegten moralisch-technisch-zivilisatorischen Überlegenheitsbild nur schlecht vereinbar. Russischer Erfolg - so etwas kann nicht mit rechten Dingen zugehen. So auch in Bezug auf die heutige Situation.

Abgesehen davon, dass jeder, der sich mit der Öl- und Gasförderung auskennt, weiß, wie technologie- und arbeitsintensiv diese Branchen sind, und unter nochmaliger Distanzierung von der These, dass Öl- und Gas die einzigen Triebfedern des russischen Aufstiegs sind, möchte ich dennoch auf sie eingehen. Vor allem auf die Frage, ob sich die Russen im Einklang mit der westlichen Sicht dafür schämen müssen, über so viele Ressourcen zu verfügen, die der liebe Gott ihnen für nichts und ungerechterweise in den Schoß gelegt hat und die sie heute ohne große "intellektuelle Leistungen" in Geld umwandeln.

Öl und Gas sind im Prinzip nur eine mögliche Ausprägung von Standortvorteilen. Standortvorteile können unterschiedlichster Natur sein. Sie unterscheiden sich auch nach dem Grad ihrer Offensichtlichkeit. Jedes Land hat seine individuellen Standortvorteile und kaum gibt es in der Geschichte ein Land, das seine Standortvorteile nicht ausgenutzt hat, was auch außerordentlich dumm wäre. Aspekte wie Geschütztheit durch natürliche geographische Barrieren, mildes Klima oder Zugang zum Meer sind historisch gesehen unzweifelhafte Standortvorteile, deren Effekt auf die zivilisatorische Entwicklung eines Landes einen unschätzbaren Wert hatte. Würde jemand zum Beispiel auf die Idee kommen, England oder die USA dafür geringer zu schätzen, dass sie ihre geographischen Barrieren oder Zugang zu den Weltmeeren von vornherein "geschenkt" bekamen? Würde man Italien dafür geringer schätzen, dass es seinem warmen Klima seit je her größere landwirtschaftliche Erträge und in der neueren Zeit viel Tourismus verdankt? Wohl kaum. In Unterlassung dieser Aspekte, vor allem in historischer Perspektive, stellt man aber allzu gern "zivilisatorische Vergleiche" mit Russland an.

Zur Erinnerung: aufgrund seiner geographischen Offenheit zur Steppe war Russland seit seinen frühesten Anfängen immer neuen rollenden Angriffswellen asiatischer Steppenvölker ausgesetzt: zahlreiche auf Raub spezialisierte Turkvölker überrannten, brannten nieder, verschleppten, entvölkerten ganze Landstriche. Die bekanntesten, doch bei weitem nicht die ersten und die einzigen, waren die Tataromongolen, die Russland 250 Jahre lang beherrschten. Im 16. Jahrhundert musste das Moskauer Reich ca. ein Drittel seiner Ressourcen dafür verwenden, seine verwundbaren südlichen Grenzen gegen die ständigen Feldzüge der Krimtataren (an denen alle männlichen Angehörigen teilnahmen) zu schützen, denen es dennoch gelang, sogar Moskau niederzubrennen. In etwa zu dieser Zeit konnte England, dass diese Probleme nicht hatte, die Ostindische Gesellschaft gründen... Unendlich viele Ressourcen und viele Jahrhunderte verwendete Russland im Kampf um einen Zugang zu den Weltmeeren, was Handel und Fortschritt bedeutete. De-facto bekam es ihn erst im 19. Jahrhundert. Ausführungen, welchen addierbaren negativen Effekt in den letzten Jahrhunderten die unvergleichlich niedrigeren landwirtschaftlichen Erträge pro Flächeneinheit im russischen Klima auf die Entwicklung des Landes hatten, lasse ich lieber aus. Sie wären hier viel zu lang und jeder kann sich selbst Gedanken dazu machen. Vielleicht auch über die Kosten der Verlegung eines Kilometers beferstigter Straße im Dauerfrostboden (ca. 47% der Fläche Russlands) im Vergleich zur Straße zwischen Mannheim und Frankfurt.

Nichts vergeht spurlos. Die zu einem Zeitpunkt der Geschichte investierten Ressourcen ergeben im nächsten entsprechende Früchte, die weiterinvestiert werden können. Erst recht bei der exponentiell wachsenden Entwicklungsform, die wir in den letzten Jahrhunderten beobachten. Entsprechend ergeben Ressourcen/Kapital, die für Investitionen in Kultur, Infrastruktur, politischen Einfluß heute nicht vorhanden sind, weil sie anderweitig aufgewendet werden müssen, morgen eine noch größere Lücke zu den glücklicheren Konkurrenten. Führt man sich dies alles vor Augen, kommt einem unweigerlich die Frage, wer denn in der Geschichte die wirklich größeren Anstrengungen unternehmen musste, um aus seiner ursprünglichen Lage in die heutige Situation zu kommen... Haben die Russen historisch wirklich weniger geleistet, als z.B. die Briten?

Unter all den immensen Nachteilen und Kataklysmen, die die Russen in ihrer Geschichte zu bewältigen hatten, hat sich nun zur Abwechslung auch ein guter Standortfaktor eingeschlichen: Bodenschätze wie Öl und Gas. Richtig profitieren können die Russen davon erst seit 50-60 Jahren, als diese als Ressource weitgehend relevant wurden. Und wenn man von ihrem marktwirtschaftlichen Wert ausgeht, dann erst seit wenigen Jahren, seit diverse mittel- und osteuropäische Länder nicht mehr, wie zuvor Jahrzehnte lang, mit stark ermäßigten Lieferungen gesponsort werden. Sollen sich die Russen nach all dem, was bisher war, also schämen, heute von den ihnen "geschenkten" Ressourcen zu profitieren? Oder sollten sie lieber an den westlichen Ländern ein Beispiel nehmen, für die so etwas nie in Frage käme...?

3 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Hmm. Kanada oder Norwegen haben auch enorme Naturrecourcen. Ob Wasserkraft oder Gas und Öl. Das stimmt schon, da sagt auch keiner was. Aber wie der Verfasser ja selbst sagt, kommt nur ein Viertel der Wirtschaftkraft aus dem Öl. Und neulich hat Putin ja auch eine Nano-Tech-Offensive für eine Milliarde USD angekündigt. Man kann nur hoffen, dass die RF in der Lage sein wird für die Zukunft eine solide zivile Volswirtschaft auf wissenschaftlich-technischer Basis dauerhaft zu installieren. Denn wie man es dreht und wendet, das Öl und andere Bodenschätze sind leider endlich. Insofern haben die Kritiker objektiv betrachtet zumindest teilweise recht.


Gruß

Autor hat gesagt…

@ Der Unbequeme: Dieser Beitrag ist nicht nur richtig, sondern auch eminent wichtig. Wie oft begegnet man im "Westen" der arroganten Einstellung, die Russen könnten nur Öl und Gas fördern. Dabei gerät in Vergessenheit, daß dort auch in den Naturwissenschaften - zumindest bis Anfang der 90er Jahre - Großes geleistet wurde. Außerdem: Wie innovativ im Hightech- und Biotech-Bereich ist Deutschland (Stichwort: brain drain)? Sind wir nicht in einigen Branchen genauso von den USA und/oder fernöstlichen Staaten abhängig wie die RF?

Unknown hat gesagt…

Ich lese und muss grinsen wieviel Neid der jenige haben muss und so etwas zu schreiben. Das zeigt wie wenig der Autor über Russland und seine Geschichte weiss!

Russland-Freund