Donnerstag, 25. Oktober 2007

Der Gipfel der Borniertheit

Ein neuer EU-Russland-Gipfel steht bevor und aller Voraussicht nach wird es wieder ein Treffen der kühlen Reserviertheit und der ungenutzten Möglichkeiten, der ergebnislos vorbeigeht und vergessen wird. Auch wenn die beiden Seiten heute in vielen Sphären gut zusammenarbeiten, schwingen im Raum vor allem die vielen Streitthemen: Energiepolitik, Investitionsbeschränkungen, Embargo auf polnisches Fleisch, "Menschenrechtslage" in Russland, russische Minderheit im Baltikum, Raketenabwehr, Kosovo, Iran und und und...

Die russische Energiepolitik ist den Europäern spätestens seit dem russischen Gasstreit mit der Ukraine ein Schreckgespenst. Unentwegt werden seitdem Rufe laut, die Energieabhängigkeit Europas von Russland zu reduzieren. Schreckensszenarien werden an die Wand gemalt, wie ein böser Kremlherrscher Europa "kurzerhand" das Gas zudreht. Das Bild sitzt. Schnell wird vergessen, dass Russland in der Energiesphäre immer ein zuverlässiger Partner für Europa war und dass das Verhältnis in diesem Bereich mindestens von beidseitiger Abhängigkeit geprägt ist. In dem Maße, wie die Europäer russische Ressourcen brauchen, braucht Russland westliches Geld und Technologien. Niemand würde in Russland auf die Idee kommen, den profitablen Ressourcenhandel mit Europa zu stoppen, erst recht nicht, da dazu im Gegensatz zur Ukraine, die vom segensreichen postsowjetischen Tauschhandelprinzip nicht lassen wollte und als Ausgleich "technische Entnahmen" tätigte, nicht mal ansatzweise ökonomisch-juristische Begründungen bestehen. Die Situation rund um die Ukraine haben die europäischen Politiker, die selbst einmal marktwirtschaftliche Preisbildungsprinzipien gepredigt hatten, schon damals höchst heuchlerisch behandelt. Die Ukraine gilt nun einmal als prowestlich = gut, Russland hängt dagegen auch 22 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges das Prädikat böse an.

Dass die Europäer dabei profitierten, indem Transitfragen durch die russische Initiative endgültig von bilateralen russisch-ukrainischen Lieferverhandlungen abgekoppelt wurden, hat der westliche Otto-Normalverbraucher nie erfahren. Es ist ja sowieso fast schon Brauch, dass ihm die wirklich wesentlichen Informationen vorenthalten werden und stattdessen ein emotionaliserter und ideologisierter Brei untergebuttert wird.

Wenn zwei Seiten eine profitable und stabilisierende Symbiose haben, warum fühlt sich dabei eine Seite so unwohl und versucht ständig, Mißtrauen einzustreuen? Wem bindet dieser Zustand zu sehr die Hände und was kann man daraus über die Absichten dieser Seite für Schlüsse ableiten? Wer kann es nicht ertragen, dass Russland als wichtiges Element in der modernen Weltordnung unantastbar wird und gleichberechtigt behandelt werden muss? Einem gewissen Staat und den ihm treu ergebenen Eliten scheint die russisch-europäische Kooperation geopolitisch jedenfalls ein großer Dorn im Auge sein und dieser Staat scheint großen Einfluß auf europäische Medien zu besitzen, da sie ihm ja sogar offen ihre Unterstützung bekunden.

Unter dem Eindruck des stetigen Trommelfeuers gegen die energetische Kooperation mit Russland bemüht sich die steife neue Generation westeuropäischer Politiker im Verbund mit den ohnehin konstant russophoben Osteuropäern längst darum, die potenziellen russischen Investitionen in westliche Energiesektoren gesetzlich zu unterbinden. Obwohl der Einstieg zusätzlicher Akteure den derzeit horrenden Wucher der Energieversorger dämpfen und für mehr Wettbewerb sorgen würde, ist die Nicht-Durchlassung des Russen wie schon 1945 ein heiliges Gebot. All das frühere Gerede über freien Handel ist schnell vergessen und über Bord geworfen. Kein Wunder, dass dies alles bei den Russen Skepsis auslöst und sie erst wirklich zu jener größeren Ausrichtung nach Ostasien bewegt, die die Russlandkritiker immer düster prophezeien.

Die Kritik an der Menschenrechtslage in Russland hat mittlerweile den Zusammenhang zur Realität verloren und führt als traditionelle Rhetorikkeule längst ein Eigenleben. Kaum jemand könnte konkret erzählen, was an den Menschenrechten in Russland heute im Großen und Ganzen nicht stimmt, man weiß aber, dass die Kritik unbedingt dazugehört. Die alte Dame Europa hat sich selbst schon derart eingeredet, eine moralische Autorität und Überlegenheit zu besitzen, dass sie sich eine Beziehung mit anderen Kulturen gar nicht mehr ohne die anmaßende Belehrungshaltung vorstellen kann.

All das ist nur ein kleiner Einblick in die lange Liste künstlich aufgebauschter russisch-europäischer Beziehungsprobleme. Heiter und traurig zugleich ist, wenn sich dann irgendwelche Analytiker zu Wort melden und sich ernsthaft darüber erstaunt zeigen, warum sich denn Russland immer mehr von Europa abwendet und auf sich selbt konzentriert. Traurig ist auch, dass wertvolle Zeit verstreicht, ohne dass wichtige russisch-europäische Projekte in Angriff genommen werden. Die Europäer werden von außen an der Leine gehalten, um eine umfassende Integration des Kontinents zu verhindern. Derjenige, der etwas anderes erwartet hatte, war ein naiver Träumer.

Dienstag, 9. Oktober 2007

Der Monolog der Kulturen

Vladimir Putin wird voraussichtlich auch nach 2008 eine einflußreiche Person in der russischen Politik bleiben, in welchem Amt auch immer. Aus der Sicht der korrekten Mainstream-Kommentatoren im Westen ist das schlecht und undemokratisch. Zugleich ist die Zustimmung in der russischen Bevölkerung zur Politik Putins so hoch, dass sich dies auch in den Westen rumgesprochen hat. Diese Tatsache ist unbequem und konterkariert gewissermaßen die Vorwürfe undemokratischer Zustände. Um das westliche Weltbild stichhaltig zu halten, muss dies dem eigenen Otto-Normalverbraucher möglichst ideologiekonform erklärt werden, doch da fangen die Probleme an.

Der Ansatz der für die Russen typischen unterwürfigen Mentalität bietet nicht sehr viel Spielraum. Man könnte mit geschichtlichen Gegenbeispielen argumentieren, mit unzähligen Aufständen, Revolten, Revolutionen und Putschen gegen die Staatsmacht, deren Anzahl nach Russland die meisten Länder dieser Welt locker abhängt. Doch der Propagandist kann aufatmen: den meisten Westeuropäern, geschweige denn Nordamerikanern, sagen Stichwörter wie Rasin, Pugatschow, Dekabristen oder Narodnaja Wolja genauso wenig wie Kronstädter Matrosen, Weiße Armee, Nowotscherkassk oder Jelzin-Putsch von 1993. Ein anderes Problem macht hier schon eher zu schaffen: bei zu großer Ausführung der Thesen über die Vassalenhaftigkeit des russischen Volkscharakters läuft man schnell die Gefahr, an die rassistischen Töne einer nicht allzu fernen Vergangenheit zu erinnern. Freilich hält auch dies einige journalistische Kettenhunde nicht davon ab, ständige Andeutungen in diese Richtung zu machen.

Ein deutlich verläßlicherer und passenderer Blitzableiter ist dagegen die Behauptung, die Russen seien der allgegenwärtigen Putin'schen Propaganda verfallen. Die fehlende Diversität der Informationsquellen erlaube es den Russen nicht, sich eine objektive Meinung zu bilden. Nach dieser Theorie müssten die Russen nur etwas mehr mit der universellen Weisheit der westlichen Weltanschauung konfrontiert werden und diese würde auf natürliche Weise die Oberhand über die perfide Kreml-Propaganda gewinnen. Eine orangene Revolution wäre dann nur noch eine Frage der Zeit.

Wie naiv dieser Glauben ist, kann man anschaulich an einigen sehr interessanten Portalen im russischen Internet sehen. Es existieren dort einige Projekte, die Artikel führender ausländischer - überwiegend westlicher - Zeitungen und Online-Medien direkt ins Russische übersetzen. Zu ihnen gehören unter anderem Portale wie InoSMI.Ru oder Inopressa.Ru. Beide sind mittlerweile sehr bekannt, haben mehrere Zehntausende Besucher täglich und werden auch in anderen renommierten russischen Print-, Online- und Funkmedien zitiert. Das Besondere an diesen Portalen ist, dass sie sehr interessante Schnittstellen oder Fenster zwischen Kulturen und Anschauungen darstellen, an denen man viel praktisches über die interkulturelle Beziehung und ihre Auswirkungen lernen kann. Die Portale bieten eine Infrastruktur, die behaupten lässt, dass die Russen heute durchaus beide Sichtweisen auf die Dinge kennenlernen können und auch kennen und ihr politischer Standpunkt auf einer Auswahlmöglichkeit basiert, die ihre westliche Nachbarn so nicht haben.

Natürlich sind es nicht allein die Internetmedien, die heute dafür sorgen, dass die Russen besser mit den westlichen Sichtweisen vertraut sind, als es meistens umgekehrt der Fall ist. Viele Russen reisen heute frei in den Westen. Jeder kann sich in Russland eine Satellitenschüssel kaufen und alle möglichen Sender empfangen. Doch was das Internet so interessant macht, ist die Möglichkeit, ein unmittelbares russisches Feedback zu einem Opus aus Washington Post, New York Times, Daily Telegraph, LeMonde, SPIEGEL oder El Pais zu sehen. Zu jedem Artikel haben die Leser nämlich die Möglichkeit, ihre Kommentare zu hinterlassen. Hier wird es zur Wirklichkeit, dieses magische Aufeinandertreffen der Ansichten, das die Russen in der Theorie reihenweise zur Demokratie bekehren und zu Widerständlern gegen das "diktatorische" Regime in ihrem Land machen sollte.

Seltsamerweise ist in den zugehörigen Foren nichts von einer massenhaften Bekehrung zu spüren, obwohl jeder seine Reaktion sofort und ohne Zwischenmoderation hinterlassen kann. Vielmehr hat die Existenz der Portale dazu beigetragen, dass sich in der russischen Gesellschaft die Ernüchterung über die westlichen "Freunde" noch weiter verstärkte, die mit der Bombardierung Serbiens 1999 erstmals richtig einsetzte und die seit der Perestroika-Zeit allgegenwärtige Bewunderung ablöste.

Der üblichen Flut an Negativismus, Scheinheiligkeit und doppelten Standards begegnen die Russen überwiegend mit Humor und Ironie. Eine deutliche Bestärkung der patriotischen Ansichten ist zu spüren und wer der russischen Sprache mächtig ist, kann sich jederzeit überzeugen, dass wohl bis zu 95% der Leser-Reaktionen diese Tonlage äußern. Manche lesen die Seiten nach eigenem Bekunden mittlerweile "zum Amüsieren" und zeigen sich enttäuscht, wenn es zu wenig richtig aggressive westliche Angriffe gibt.

Natürlich haben sich bei der Leserschaft im Laufe der Zeit auch einige Kultfiguren etabliert, deren Ergüsse sich besonderer Popularität erfreuen. Da wäre zum Beispiel der französische "Philosoph" André Glucksmann, der sich regelmäßig in diversen Medien Europas verkünstelt. Seine blumigen und emotionalen Ausführungen über die "tapferen Tschetschenen" und den "menschenfressenden Tyrannen" im Kreml sorgen bei der Leserschaft für ausgezeichnete Stimmung. Für zusätzlichen Humoreffekt sorgt die Tatsache, dass das Wort "Gluck" (глюк) im russischen Slang für Fieberfantasie steht. Der unnachahmliche Philosoph war denn auch dafür verantwortlich, dass die Community eine allgemeine Maßeinheit für die Absurdität eines Artikels eingeführt und ihm zu Ehren 1 Gluck genannt hat.

Ein anderer beliebter Komiker ist der Russland-Reporter des "Focus" Boris Reitschuster. Allerdings muss man einräumen, dass seine durchweg schwarzmalerischen und selektiven Darstellungen, die unübersehbar das Ziel verfolgen, die verborgenen Überlegenheitsgefühle des Otto angenehm zu kitzeln und häufig von der Politik auch ins Alltagsleben wandern, bei vielen auch Ärger auslösen. Einmal nahm Reitschuster sogar an einem Chat mit den Lesern von InoSMI teil, drückte sich jedoch weitgehend um klare Antworten.

Weitere Lieblingsstücke sind Artikel aus der polnischen Presse. Die transatlantische Versteiftheit und nationale Selbstüberschätzung sind dort derart ausgeprägt und in den Augen der Russen so süß, dass dieses sonst unbedeutende Land einen Bonus an Aufmerksamkeit bekommt. Zweifellos hat die Lektüre polnischer Presse das Bild der Polen in Russland nachhaltig verändert.

Alltägliches Hauptbrot sind dagegen die führenden amerikanischen und britischen Zeitungen und ihre Russland-Ergüsse. Sie werden als Leitmedien empfunden, von denen deutsche, französische, spanische Medien die Richtung abschauen. Hier wird mit weniger Humor, dafür mit gnadenlosem Aufzeigen aller Argumentationsschwächen und moralischer Defizite vorgegangen. Und die Einigkeit der Leserschaft ist erstaunlich bzw. so stark wie schon lange nicht. Die Positionen der meisten Angelsachsen gelten den Russen als tückisch, verlogen und scheinheilig und Begriffe wie Demokratie und Menschenrechte als willkürlich einsetzbare Instrumente im geopolitischen Kampf.

Offensichtlich ist die Begegnung mit der feindseligen Umgebung und das Gefühl des Mißverstandenseins ein bedeutender Konsolidierungsfaktor und Patriotismus-Förderer. Das direkte Aufeinanderprallen der Ansichten zeigt: wenn der Westen im Kampf der Weltanschauungen mit Russland erfolgreicher sein will, sollte er die Bekanntschaft der Russen mit seiner Denkweise im Gegensatz zur spontanen Vermutung möglichst klein halten. Und den Meinungsaustausch weiterhin keine Zweibahnstraße sein lassen.