Sonntag, 30. November 2014

Deutsche Verständnisprobleme oder bewusste Heuchelei in der Ukraine-Krise

Angela Merkel fährt einen harten Kurs gegenüber Russland und Präsident Putin, Außenminister Steinmeier zeichnet sich durch eine vergleichsweise weniger konfrontative Haltung aus, weswegen die Medien schon mal einen Krach zwischen den beiden vermuten und einige CDU-Politiker Steinmeier sogar eine "Nebenaußenpolitik" vorwerfen, die an Merkel vorbeigehe. Doch egal, wie konfrontativ die Haltung der deutschen Spitzenpolitiker im Einzelnen ist, sie ist gleichermaßen gekennzeichnet von einseitigen Schuldzuweisungen Richtung Moskau und durch keinerlei Kritik an Kiew oder an den eigenen Versäumnissen im Russlandverhältnis der letzten Jahre.

Auch beim jüngsten Interview von Steinmeier beim ZDF wird so gut wie keine Ursachenforschung betrieben. Abstrakt wurde vom "schlimmen Sachen" in der Ukraine gesprochen, ohne die Täter zu nennen, die bei der überwiegenden Anzahl der bisherigen zivilen Opfer eindeutig der ukrainischen Armee oder den ukrainischen Rechtsradikalen (ob in Odessa oder in der Ostukraine) zuzuordnen sind. Darüber wurde fleißig geschwiegen, dafür gab's sowohl vom Moderator, als auch von Steinmeier selbst immer wieder Erwähnungen von "Putins Aggression" und unzulässigen Grenzverschiebungen.

Eine ehrliche Ursachenforschung für den diesjährigen Ausbruch des Konflikts müsste etwas anderes ergeben. Die Zeitbomben dafür tickten sehr lange, bereits seit 1991. Als die Sowjetunion zerfiel, entstanden aus 15 ehemaligen Sowjetrepubliken neue Staaten. In vielen von ihnen existierten große russische Minderheiten, die sich auf einmal mit sehr beschränkten Rechten wiederfanden. Vor allem in der Ukraine und in den baltischen Staaten besaßen sie keinerlei EU- und russlandweit üblichen Minderheitenrecte, was Sprache, Bildungs- und Kulturpolitik sowie regionale Selbstverwaltung anbetrifft. Sie wurden Opfer einer aggressiven Nation Building Policy und Geschichtsumschreibung, bei der sie sich in ihrer Identitätserhaltung immer mehr in eine Ecke gedrängt sahen.

Der Westen zog es vor, diese Probleme nicht zu sehen und interessierte sich nicht dafür. Der Drang nach Osten und das antirussische geopolitische Schema setzte auf bedingungslose Unterstützung der osteuropäischen Staaten als Puffer und Gegenspieler von Russland. Die legitimen Interessen von Russland in seiner direkten Nachbarschaft wurden gezielt mißachtet und die antirussischen Stimmungen in den jeweiligen Staaten mithilfe von westlichen NGOs, Stiftungen und Medien stattdessen immer weiter angefeuert. Die jeweiligen Höhepunkte waren die gezielt angezettelten und von Geheimdiensten koordinierten Umstürze wie der Euromaidan, die mit tatkräftiger Hilfe rechtsradikaler russophober Kräfte realisiert wurden. Gerade Leute wie Steinmeier, der am 21. Februar als Garant für etwas aufgetreten ist, was 24 Stunden später nur noch Makulatur war, hat mächtig Mitschuld an der ganzen Misere.

Das Kalkül war wohl das Stillhalten der prorussischen Bevölkerungsanteile, die einer Verschärfung ihrer ohnehin schwierigen Lage hätten widerstandslos zuschauen sollen. In der Tat ließ ihre langjährige Letargie nach dem Ende der Sowjetunion ein solches Szenario möglich erscheinen. Der Westen unterschätzte aber, dass auch diese Menschen sich nicht ewig unterdrücken lassen wollen und unterschätzte gleichzeitig die Fragilität des Kunststaates Ukraine. Ein verfassungswidriger Umsturz mit tatkräftiger Beteiligung ultranationalistischer Kräfte ließ den Geduldsfaden reißen. Anschließend brauchte man sich nicht zu wundern, dass sich zentrifugalen Kräfte bildeten, die dort, wo es möglich war (Krim und Ostukraine) zu einer Abspaltung führten.

Auch dass Russland das grobe westliche Maidan-Foulplay vor seiner Haustür nicht mehr ohne weiteres dulden konnte, genauso wenig wie die sich abzeichnende brutale Unterdrückung großer prorussischer Bevölkerungsteile in der Ukraine, müsste eigentlich verständlich sein. Putin hat diese Probleme in seinen Reden und Interviews mehrfach klar benannt, aber niemand scheint ihm richtig zuhören zu wollen.

Der Ausweg sollte jetzt sein, die Ukraine nachdrücklich zu einem föderalen Staatsaufbau zu bewegen und die Rechte der russischsprachigen Bevölkerung zu respektieren. Damit könnte das Spannungsverhältnis in den europäisch-russischen Beziehungen gelöst werden. In Russland ist es mittlerweise gesellschaftlicher Konsens, die Eindämmungs- und Erniedrigungspolitik Russlands durch den Westen in keinster Weise mehr zu akzeptieren, weshalb Wladimir Putin jetzt auch rekordmäßige Zustimmungswerte aufweist. Auch die Sanktionspolitik wird daran nichts ändern, eher umgekehrt. Ohne eine ehrliche Aufarbeitung der russischen Minderheitenproblematik ist keine Lösung des Konflikts möglich, ähnlich wie eine Heilung ohne eine richtige Diagnose. Die historische Chance darauf, dass sich Ost und West nicht mehr als eine Bedrohung empfinden, muss trotz der Versäumnisse der letzten 23 Jahre, weiterhin ergriffen werden.

Ein weiterer notwendiger sehr wichtiger Aspekt ist die Emanzipation der Europäer von der US-Vormundschaft, denn die Amerikaner sind keinerlei an einer Entspannung in Europa interessiert, die ihre Bedeutung in der Alten Welt automatisch herabsetzt. Die Situation, bei der sie ihren Schutz gegen vermeintliche Bedrohungen nicht mehr "verkaufen" können, ist für sie geopolitisch sehr unvorteilhaft, weswegen sie Konflikte gezielt schüren und am Kochen halten. Die Europäer müssen klar verstehen, dass das aber gegen ihre eigenen Interessen ist. Und wenn die aktuellen Politiker dazu aus verschiedensten Gründen nicht in der Lage sind, muss das Volk sie eben austauschen.