Angetan hat's mir zuletzt ein langes Interview des ARD-Korrespondenten Horst Kläuser, das im
Krusenstern-Blog veröffentlicht wurde. Der dramatische Titel "Manchmal kann man an Russland verzweifeln" ließ schon gleich ein Sahnestück geistig verkrusteter Propaganda-Klagelieder nach gutmenschlicher Altherrenart vermuten. Schließlich ist es nicht allzu lange her, seit Kläuser eine demonstrative wie verlogene
geistige Anstrengung unternahm, auch nur eine positive Story an Russland zu finden, um es dann enttäuscht aufzugeben und gleichzeitig einen der moralischen Tiefpunkte der bisherigen medialen Russlandhetze zu markieren.
Originelle Stilblüten antizipierend, widmen wir uns also dem Interview. Später wird es uns tatsächlich belohnen. Anfangs darf sich Kläuser auf primitive russische Journalisten einschießen: "
Natürlich gibt es hier keine gewachsene Journalisten-Kultur wie bei uns". Danach wird dem heutigen Deutschland ein "
selbstbewusster, unabhängiger Journalismus" bescheinigt, der Russland in der Entwicklung um Jahrzehnte voraus sei. Aha..
Dann macht's Kläuser konkreter: die russischen Kollegen haben alle ein eklatantes Mißverständnis, was journalistische Arbeit angeht. Sie glauben, dass man nur in jemands Auftrag arbeiten kann und erklären sich so die antirussische Haltung der Westmedien. In Wahrheit ist er, Horst Kläuser, aber über solche Sachen 100% erhaben und schreibt völlig frei über das, was er sieht. So weit, so schlecht.
Und plötzlich ein Paar Zeilen später - man traut seinen Augen nicht - überkommt Kläuser ein Anflug bemerkenswerter Offenheit: "
In den deutschen, englischen und amerikanischen Redaktionen gibt es natürlich auch eine gewisse Vorprägung in Bezug auf die Nachrichten, die aus Russland erwartet werden. Themen wie die fehlende Demokratie, bedrohte Pressefreiheit, marodes Militär, Grossmachtansprüche, Erpressung durch Energie - mit all diesen Sachen landen sie sofort in den Programmen und in den Zeitungen". Themen, die Russland besser aussehen ließen, "
passen nicht in die Wahrnehmung vieler Kollegen in den Redaktionen". Unter solchen Themen versteht Kläuser selbst allerdings eventuelle Erfolge der Opposition. Was kann man dann erst über die Chancen von Meldungen sagen, die für die Mehrheit der Russen aktuell wirklich positiv sind: steigende Renten, Modernisierung des Gesunheitswesens, Vernetzung der Schulen, Erneuerung bei der Armee, die gelungene Aufhaltung des Brain Drains. Solche Berichte werden wir auch in den nächsten 30 Jahren sicherlich nicht zu Gesicht bekommen, denn das passt ins gewünschte Bild von Russland noch weniger.
Dies alles ist an sich nicht erstaunlich, sind wir schließlich schon gewohnt. Erstaunlich ist vielmehr, wie all das im Kopf Kläusers zusammen Platz findet.
Denn der Widerspruch der in ein und demselben Interview gemachten Aussagen ist eklatant. Dass ein Journalist, dessen positive Storys mit großer Wahrscheinlichkeit im Mülleimer der Redaktion landen, sich mit der Zeit keine unnötige Mühe mehr macht und, um des beruflichen Erfolges willen, nur noch stereotypenkonforme und generallinientreue Ware abliefert, dürfte klar sein. Schließlich ist er ja schnell austauschbar. Das heißt also, ein Korrespondent tut unter diesen Umständen in der Praxis nichts anderes, als in einem tendenziösen Auftrag von irgendjemand zu handeln, während freie Berichterstattung ein Mythos ist. Und dies ist genau das, was Kläuser weiter oben empört abstreitet...
Dieses System garantiert verläßlich, dass die westlichen Medien, zumindest in Bezug auf Russland, keineswegs pluralistischer sind, als die russischen, nur mit anderem Vorzeichen. Was hier journalistischen Vorbildcharakter tragen soll, ist die große Frage, denn die beiden Systeme gleichen sich wie zwei Tropfen Wasser und dienen jeweils dem eigenen politischen Zweck. Ein Unterschied besteht allenfalls darin, dass die Vertreter der russischen Medienwelt dabei weniger überheblich und moralapostelisch daherkommen.
Dass in Bezug auf die Berichterstattung aus Russland eine mächtige Selektion stattfindet, ahnten und spürten wir irgendwie alle schon immer. Im Kern wurde also kein Amerika neu entdeckt. Bemerkenswert und neu ist jedoch, wie ein Vertreter einer zentralen öffentlich-rechtlichen deutschen Sendeanstalt dies Schwarz auf Weiß zugibt. Wie er es wagte, den uns alles so heiligen demorkratischen Journalismus so zu "verleumden", ist mir nachwievor ein Rätsel. Vielleicht, weil er das Vertrauen des 0815-Zuschauers in sich und seinesgleichen für unumstößlich hält, egal was komme...