Sonntag, 9. Mai 2010

Der Tag des Sieges und seine Relativierungsversuche

Russland und viele andere Republiken der ehemaligen UdSSR sowie Staaten Europas feiern den Tag des Sieges über den Hitler-Faschismus. Der Vernichtungskrieg der Nazis forderte in der Sowjetunion über 26 Millionen Menschenleben, die meisten davon Zivilisten. Es gibt kaum eine russische, ukrainische oder weißrussische Familie, die während des Krieges keine Verluste zu beklagen hatte. Nicht zuletzt deswegen hat die Erinnerung an diesen Krieg eine sakrale Bedeutung für die Menschen in diesen Ländern. Mit dem Sieg über die Versklavungsmaschinerie der Nazis wurde das Recht auf Leben und Freiheit erkämpft, auf das Überleben der Nation.

Die deutsche Berichterstattung über das Kriegsgedenken wird der Bedeutung dieses historischen Ereignisses in keinster Weise gerecht. Zum einen ist eine gewisse Verwunderung zu spüren, dass die Russen immer noch den "alten" Bräuchen anhängen, die nach deutschen Verständnis längst überholt sein müssten. Das Festhalten an diesem Tag wird sinngemäß als Ausdruck russischer Rückwärtsgewandtheit, Militarismus und "Selbstinszenierung des Putin-Regimes" erklärt. Spiegel Online präsentierte just zum Tag des Sieges gleich fünf Artikel über den vermeintlichen Stalinkult in Russland, so als ob es an diesem Tag in erster Linie um Stalin geht. Und Welt Online fällt natürlich auch nichts Besseres ein, als einen Artikel des oppositionellen russischen Schriftstellers Viktor Jerofejew einzustellen mit dem Titel "Jeder Russe will ein Stalin sein". Warum muss das alles ausgerechnet am Tag des Sieges sein? Das Stalin-Thema ist ein sehr weites und ist nicht speziell mit diesem Tag verbunden, der für etwas ganz anderes steht. Das verstärkte Herumtrampeln auf Stalin, pünktlich zum Tag des Sieges, lässt einen bösen Willen zur Relativierung dieses Feiertags vermuten.

Dabei gibt es nicht mal einen ernsthaften Grund, Russland einen Stalinkult zu unterstellen. Die russichen Medien, das russische Kino und Literatur setzten sich sowohl in den Neunzigern, als auch heute intensiv mit stalinistischen Repressionen auseinander. Es gibt jede Menge Filme, Fernsehserien, Gedenkstätten und Archivmaterial, mit deren Hilfe jeder die Wahrheit erfahren kann. Auch der russische Staat gibt Stalin eine eindeutige Bewertung: ein Verbrecher, dessen Methoden durch nichts zu entschuldigen sind. Dass manche, vor allem ältere Menschen sich gegen all die Information, die heute vorhanden ist, stur stellen und ihre Meinung zu Stalin immer noch nicht verändert haben - ist eine Tatsache, gegen die man wohl nichts mehr wird machen können, ähnlich wie gegen unverbesserliche Anhänger des rechtsradikalen Gedankenguts in aller Welt. Wozu also diese tendenziösen, deplatzierten Angriffe am Tag des Sieges?

Dass die Deutschen die Bedeutung dieses Tages für Russland oftmals nicht im vollen Maße begreifen, liegt aber auch daran, dass die allgemeine mediale Beleuchtung dieses Krieges alles andere als ausgeglichen, gerecht und neutral ist. Die Fokussierung auf deutsche Opfer hat in letzter Zeit alles andere weit in den Schatten gestellt. Gebetsmühlenartig laufen in den öffentlich-rechtlichen Dokumentarfilme zu den Bombardierungen deutscher Städte, der Flucht aus den Ostgebieten, dem Untergang deutscher Schiffe, dem Schicksal deutscher Kriegsgefangener etc., so dass die junge Generation geradezu den Eindruck bekommen muss, die Deutschen wären die Hauptopfer des Zweiten Weltkrieges gewesen.

Themen wie die Hungerblockade von Leningrad, bei der etwa 1,1 Millionen Zivilisten an Erschöpfung ums Leben kamen, die unglaublichen Massaker an der Zivilbevölkerung im Zuge der "Partisanenbekämpfung", die genauso rücksichtslose Bombardierung von sowjetischen Millionenstädten durch die deutsche Luftwaffe, die über 3 Millionen sowjetische Tote in deutscher Kriegsgefangenschaft - all das ist kaum der Rede wert. Zwar ist das oberflächlche Wissen über die hohen Opfer der Sowjetunion bei den meisten Menschen vorhanden . Was das jedoch im Einzelnen bedeutete, woraus sich diese Zahl zusammensetzte, mit welchen Schrecken und Leiden die Menschen in der Sowjetunion konfrontiert waren - all das ist höchstens einem engen Kreis der Spezialisten bekannt.

Die Schieflage bei der Aufarbeitung des Zweiten Weltkrieges, die man in Deutschland beobachten muss, ist eine traurige Angelegenheit. Gerade das wäre ein Thema, das die Schreiberlinge in den Redaktionen, die sich so gerne als Anwälte der Moral präsentieren, nicht weniger als den vermeintlichen Stalinkult in Russland aufgreifen sollten. Man soll ja bekanntlich erst vor dem eigenen Stall kehren.